The Dresden Dolls – Yes, Virginia (Roadrunner, Universal)

YesSpex hat eigentlich schon alles gesagt: Wie peinlich und albern eigentlich die Grufti- und Gothic-Szene ist, dass allzu viel artifizielles Theater auch weh tun kann, dass diese Musik eigentlich nicht in die Schemata passt - dass bei den Dresden Dolls aber trotzdem alles anders ist. Dazu gab es noch exklusive Nacktfotos einschließlich Achselhaaren. Da suche ich denn verzweifelt nach der Nische, nach dem noch Ungesagten über dieses Album. Und wo finden wir es, das Ungesagte? Tief drin. Es steckt in uns allen.

Es ist die Sehnsucht nach einer neuen Identität, die uns an den Dresden Dolls so fasziniert. Jenseits des eingefahrenen Alltags. Natürlich: Wir von den Modernen Performern und Postmateriellen, wir bemühen uns um Authentizität gepaart mit Selbstverwirklichung. Wir haben unsere eigenen „Projekte", arbeiten an uns und unserer Umwelt und wundern uns eigentlich ständig, warum sich dafür partout keiner interessieren will. Außer ein paar Freunden, die zuhören, weil sie unmittelbar danach gleich von ihren eigenen Projekten erzählen wollen. Und weil sie dann weitergeben können, dass sie jemanden kennen, der ein „Projekt" macht.

Unsere Welt besteht aus Projekten, die sich bemühen, „arty", besonders, avantgardistisch, subversiv zu sein. Man organisiert Parties, Konzerte, Designmärkte, Ausstellungen, Performances und allerlei anderes Getöse, das immer die gleichen Leute besuchen mit immer der gleichen Absicht. Von den anderen gleichen Leuten gesehen zu werden.

Die perfekte Musik zu diesen Projekten sind die Dresden Dolls. Eine Frau und ein Kerl, die eine extrem artifizielle Musik machen, nur mit Piano und Drums, dazu egozentrische Texte singen, sich maskieren oder weiß schminken und ihrer Selbstverwirklichung vorrang vor allem anderen lassen. Hias Wrba im Spex nennt sie die erste amerikanische Punkband. Aber das ist eher eine eurozentrierte und leicht nostalgisch angehauchte Retrospektive. Zumal Amanda Palmer betont: „Wir sind keine Retro-Cabaret-Band. Wir sind keine Goth-Band. Wir sind keine Punkband."

Man darf ihr schon den gleichen intellektuellen Horizont zutrauen wie dem rückverwunschenen Spex-Redakteur, der so gerne das später hinzugekünstelte Punk-Prinzip wieder beleben möchte. Aber das funktioniert nicht mehr, weil es heutzutage keine Traditionsbrüche, überhaupt keine Brüche mehr gibt. Die Dresden Dolls sind eine Spätgeburt der Postmoderne. Ein Ausdruck dessen, dass die Bricolage-Kultur der Postmoderne versucht, sich aus der Beliebigkeit zu befreien. Die Dresden Dolls sind eine Kunst-Marke mit gutem Branding. Glaubwürdig, authentisch, mit hoher Widererkennbarkeit. Marken geben Orientierung und stehen für eine Qualitätsvermutung, wenn man sie einmal begriffen hat. In der Kunst heißen Marken Ikonen, Legenden oder auch Mythen. Die Dresden Dolls werden das sein. Sie werden sich wie David Bowie immer wieder neu erfinden und gerade dadurch ihre eigene Marke am Fluss der Zeit halten. Denn sie sind kluge Künstler auf hohem musikalischen und darstellenden Niveau, was sie zusätzlich von Punk und Gothic unterscheidet.

Die Dresden Dolls sind für uns alle ein Vorbild, weil sie ihr Projekt mit großer Konsequenz umsetzen. Und weil sie es geschafft haben, sich aus der Beliebigkeit zu befreien. Deshalb projizieren wir unsere Sehnsüchte in ihre Musik. Weil sie so besonders ist.

http://www.dresdendolls.com/ 
http://www.spex.de